Cees Nooteboom > Mosselstraat | Antwerpen/Antwerp | Belgium

Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben. Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit, sie gehören zur Stadt, die ohne sie undenkbar ist, sie sind das Auge, das Protokoll, die Erinnerung, das Urteil und das Archiv, im Flaneur wird sich die Stadt ihrer selbst bewußt.

Er kennt ihre Geheimnisse, ihre unterirdischen Wasserwege, ihre Launen und Schwächen, ihre nächtliche Stille und ihre euphorischen Momente, in seinen Sohlen, so Walter Benjamin, stecken ihre Erinnerungen, die Dinge, die jeder bereits vergessen hat, weil sie einem nichts nützen. Er ist der ganz und gar unnütze und zugleich ganz und gar unentbehrliche Passant, seine Arbeit besteht aus dem, was andere versäumen: Während sie in der Stadt oder von der Stadt sind, ist er die Stadt, so wie die Bürgersteige, die Schaufenster, die Parks, die Verkehrsadern die Stadt sind, selbst wenn niemand ihn entbehrt, ist er unentbehrlich.

Cees Nooteboom “Die Sohlen der Erinnerung. Die Stadt, die Frau und der Flaneur – ein sehr persönlicher Streifzug durch die Geschichte einer Denkfigur” in: “Die Zeit” 1995-12-1

the pedestrian  © 2012 Stefan Huber  <<   |   <   |   >   |   ?